„Viel Spaß noch bei eurem Katastrophentourismus!“

„Viel Spaß noch bei eurem Katastrophentourismus!“

Ist es verwerflich, wenn wir uns an dem Meer sonnen, in dem andere ertrinken?

Ist es moralisch vertretbar, morgens gegen das ungerechte System zu kämpfen und es abends zu unterstützen? Morgens soziale Organisationen, Einrichtungen und Institutionen zu besuchen, um Not und Leid in der Linse einzufangen, und abends eine Städtetour durchs Burgviertel zu machen?

Foto: Weena Mallmann, 16.08.2018

Wir reisen von Bett zu Bett und haben Zugang zu Lebensmitteln unserer Wahl. Wir trainieren abends den überflüssigen Zucker ab, den wir über Tag konsumiert haben.
Wir versuchen, die Situationen und die Geschichten von Menschen mit unterschiedlichen Medien abzulichten. Wir reisen die Balkanroute rückwärts – in kreativer Freiheit, ohne jegliche Begrenzung. Mit unserem mächtigen deutschen Pass bewegen wir uns ohne Probleme über zahlreiche Grenzen. Wir denken darüber nach, wie wir sie überqueren können und nicht ob.
Wir sitzen in unserem klimatisierten Bus und schauen uns durch das Fenster eine Welt an, die wir zwar sehen, vor der wir aber durch ganz einfache Waffen geschützt sind: Privilegien, die aus dem Glück resultieren, in einem Land geboren zu sein, das sich durch wirtschaftliche Stärke und Macht auszeichnet.

Machtmissbrauch oder Privilegiennutzung?

Die Frage ist: Missbrauchen wir diese Macht oder nutzen wir sie zugunsten der Menschen, denen wir begegnen? Nutzen wir sie, um eine Realität einzufangen und sie möglichst in all ihrer Vielfältigkeit darzustellen? Haben wir die Meinungen der Menschen im Blick, von denen wir eigentlich mehr erfahren möchten? Hören wir uns nur die Menschen an, die stellvertretend für Geflüchtete sprechen oder lassen wir diese für sich selbst sprechen, wenn sie möchten? Objektivieren wir die Menschen oder geben wir den Unterdrückten eine Stimme, weil wir die Macht dazu hätten?

Wer sind hier die Held*innen?

Auf unserer bisherigen Reise haben wir viele Menschen getroffen, die von unserem Projekt begeistert waren und uns kennenlernen wollten. Manche sprachen uns ihren Respekt aus für das, was wir gerade leisten; für die Herausforderungen, denen wir uns angeblich stellen oder sogar für unseren vermeintlichen Mut, den wir gerade unter Beweis stellen. Wir veröffentlichen Stimmen, Aussagen oder Gesichter von Menschen auf der Flucht und ihren „Helfer*innen“. Deswegen von außen als Held*innen konstruiert zu werden, bereitet uns dabei Bauchschmerzen. Denn wir gehen weder Risiken ein, noch begeben wir uns in gefährliche Situationen. Das Projekt bedeutet für uns zwar viel Arbeit, aber wir machen sie gerne und müssen für sie keine Opfer bringen.
An dieser Stelle wird deutlich, dass wir mit unterschiedlichen Konflikten konfrontiert werden, die es aus unserer Sicht zu reflektieren gilt. Besonders aus unserer ethischen Perspektive geraten wir häufig in paradoxe Situationen, die uns zum Nachdenken anregen. So betrachten wir es beispielsweise als kritisch, in die Lebenswelt der Menschen auf der Flucht einzudringen, ohne dass diese darüber informiert werden, dass Besucher*innen als Gruppe zur Besichtigung kommen.

Wir erwarten für unser Projekt keine Gegenleistung, beispielsweise in Form von Dankbarkeit oder Anerkennung. Das steht uns nicht zu.

Und nun?

Was sagen die Menschen dazu, denen wir tagsüber begegnen? Uns ist aufgefallen, dass wir sie danach bisher nicht gefragt haben. Wir haben sie darum gebeten, unsere Fragen zu beantworten und ihnen wenig Raum für ihre eigenen gelassen; wir mit unseren angeborenen Privilegien, mit der Macht im Gepäck, die uns erlaubt, von Land zu Land zu ziehen und die Menschen zu besuchen, die unsere Fragen beantworten sollen. Und schon wieder stellen wir uns die Frage: ist dies moralisch vertretbar? Das sollten wir vielleicht die Menschen selbst fragen!

Vielleicht stellen wir bei der nächsten Begegnung die Frage, was die Menschen, denen wir begegnen, gerne erzählen möchten. Vielleicht stellen wir die Frage, was sie als Beitrag über sich hören, sehen oder lesen möchten. Was sie sich wünschen, wie Medien über Menschen mit Fluchtbiografie berichten. Dabei wollen wir vorhandene Barrieren (z.B. Sprache) überwinden, um nicht nur Beobachter*innen aus der Ferne zu bleiben. Ein kleiner Versuch, zumindest mit ein paar Paradoxien umgehen zu können.

von Annette Adams, Sophia Dykmann, Weena Mallmann und Levina Mink

3 Comments

Hallo Ihr Reisenden,

wir sind beeindruckt, wie intensiv Ihr Euch auseinandersetzt mit Eurem Unterwegssein.
Wir möchten Euch gerne einen spontanen Gedanken dazu mitteilen:
Ihr bringt den Menschen, denen Ihr begegnet, durch Euer Interesse eine Wertschätzung entgegen, die für das Zusammenleben aller Menschen wichtig, aber leider nicht selbstverständlich ist.
Es mag keine Herausforderung sein, mit deutschem Pass durch fremde Länder zu reisen, aber sich auf die ganz andere Lebenssituation der Menschen einzulassen, sich berühren zu lassen von der Not anderer Menschen, das erfordert doch einigen Mut.
Denn diese Erfahrungen werden Teil Eures Lebens bleiben, werden immer Antworten im konkreten Alltag einfordern.
Diesen Gedanken hat auch Christoph Pistorius im Gottesdienst zum Aufbruch in Würselen sehr schön formuliert. Und er wünschte Euch allen, dass Ihr auch nach der Fahrt mit Zuversicht durchs Leben gehen könnt.

So wünschen wir Euch weiterhin ein gutes miteinander Unterwegssein.

Übrigens:
Keine Sorge, Eure Artikel werden auch nach der Reise noch gelesen.

Marita und Stefan Zaremba

Hallo,

ich habe eure Berichte gelesen, versucht, in eure Gedankenwelt einzutauchen. Ich habe euch virtuell begleitet. Ich habe Verbesserungsvorschläge gemacht die ihr angenommen und umgesetzt habt. Ich finde euer Projekt toll. All diese Fragen die ihr euch stellt finde ich auch richtig und gut. Diese Fragen sind ein Ergebnis eurer Reise.
Viel wichtiger finde ich aber, was ihr zuhause daraus macht. Wie sich Einstellungen verändern, wie Vorurteile abgebaut werden und vor allem anderen: Wie würde jeder von euch die folgende Frage beantworten:
Wenn die nächste „Flüchtlingswelle“ kommt, und sie wird kommen, auf welcher Seite stehe ich dann?

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