Die haben halt eine andere Kultur!

Die haben halt eine andere Kultur!

Existiert ein einheitliches Kulturverständnis in einem Land? Und eine damit einhergehende Kultur, die alle Individuen miteinander verbindet? Können Menschen sich über eine gemeinsame Kultur definieren oder geht es nicht vielmehr um ähnliche Sichtweisen, Einstellungen, vielleicht auch gemeinsame Lebensmittelvorlieben, die sich aber nicht über ein gleiches Herkunftsland fassen lassen werden und die sich somit nicht nur darüber entwickeln, dass Menschen im selben Land aufwachsen?

Globalisierung und Digitalisierung ermöglichen, über Landesgrenzen hinaus etwas zu erfahren, ohne eine Landesgrenze zu überqueren. Im Alltag und auch virtuell entdecken Menschen Neues aus verschiedenen Kulturen und können dies zu ihren bisherigen Deutungsmustern und Lebensweise hinzufügen. In einer pluralistischen Gesellschaft lässt sich weniger eine Kultur beschreiben, von der sich alle Individuen angesprochen fühlen. Wenn wir also DIE deutsche Kultur beschreiben möchten, stehen wir vor der Herausforderung, (ein Stück) Lebensrealität von mehr als 81 Millionen Menschen zu erfassen. Für mich stellt sich dabei die Frage, wie das überhaupt möglich sein kann, denn was genau ist DIE deutsche Kultur, von der sich so viele Menschen angesprochen fühlen und mit der sie sich identifizieren können? Wahrscheinlich kann ich diese Frage vielen Menschen stellen und erhalte genauso zahlreiche Antworten, die einander nur wenig oder gar nicht ähneln. Gleichzeitig würden sich global betrachtet mit Sicherheit viele Antworten doppeln, wenn ich beispielsweise nach den Werten fragen würde, die eine vermeintliche Kultur auszumachen scheinen.

Ist es sinnvoll, Menschen nach spezifischen Kulturaspekten eines Landes zu kategorisieren oder werden sie dadurch vielmehr darauf reduziert?

Lässt sich der Kulturbegriff nicht vielmehr vielseitig auslegen, da ihn Menschen unterschiedlich deuten und nutzen und sich bereits innerhalb eines Landes, in den unterschiedlichen Bundesländern sowie in den differenten Städten dieser Bundesländer, mehrere Kulturverständnisse beschreiben lassen? Die kulturelle Zugehörigkeit ist auf der einen Seite ein wichtiger Identitätsaspekt, der auf Menschen Einfluss nimmt. Auf der anderen Seite besteht auch die Gefahr der Kulturalisierung, wenn Sachverhalte oder Konflikte beispielsweise nur auf die kulturelle Zugehörigkeit zurückgeführt werden. Insbesondere in pädagogischen Kontexten muss reflektiert werden, wann kulturelle Zugehörigkeit relevant wird und wann lediglich Kultur als Begründung für beispielsweise soziale Probleme genutzt wird (Gaitanides 2003). Es braucht daher eine Sensibilisierung, die erkennt, wann kulturelle Unterscheidungen lediglich vorgeschoben werden, um strukturelle Ursachen oder soziale Notlagen zu verschleiern.

Bin ich als Deutsche dazu verpflichtet pünktlich oder fleißig zu sein? Muss ich Kartoffeln essen und bei Rot an der Ampel stehen bleiben, um ein Teil der deutschen Kultur zu sein? Wenn ich eher zurückhaltend und verschlossen bin, bin ich dann nicht mehr fähig an einem Ort zu leben, wo die Kultur angeblich von Offenheit, Herzlichkeit und Gastfreundschaft geprägt ist? Wenn ich mit gesellschaftlichen Werten und Normen groß geworden bin, die mir vorschreiben, dass ich meine Mitmenschen solidarisch behandeln soll, tue ich dies dann? Und wenn ja: tue ich das nur, um in der Kultur weiterhin integriert zu sein oder weil diese Norm bei mir durch die kulturelle Sozialisation unhinterfragt internalisiert ist? Bedeutet es dann, dass ich nicht mehr mit Menschen zusammenleben kann, die nicht solidarisch sind, weil das nicht mit „meiner Kultur“ vereinbar ist? Wenn ich mit der Überzeugung der Individualität groß geworden bin und dieses Denken verinnerlicht habe, bin ich dann nicht dazu in der Lage, in einem Land zu leben, wo beispielsweise mehr als Familienverband gedacht und gehandelt wird?

Welchen Zweck verfolgt die Einteilung in Kulturen nun also? Sollen Menschen dadurch weniger komplex und gefährlich wirken, weil sie angeblich einer bestimmten Kultur angehören und nach ihr handeln?

Menschen wollen von Natur aus Verstehen. Weniger komplexe Wesen sind einfacher zu verstehen. Nach Leiprecht (2004) wird über Kulturen versucht, die besondere Lebensweise und die entsprechenden Deutungsmuster sowie Zeichensysteme einer Gruppe oder Gesellschaft zu fassen. Dabei handle es sich bei Kulturen nicht um statische und einheitliche Gebilde, sondern um unabgeschlossene und prozessorientierte Konstruktionen. Die Grenzen einer Gruppe oder einer Gesellschaft sind dabei keineswegs eindeutig, sondern diffus, denn Kulturen sind als Veränderungen, Anpassungen und Überlagerungen offener Systeme zu betrachten. Nach diesem Verständnis wurden und werden Kulturen von Menschen konstruiert und durch sie determiniert.

Ich erachte es als zu eng gefasst, an einem Kulturbegriff festzuhalten, der die Welt in Gruppen aufteilt, bspw. wie Samuel P. Huntington dies als „Kampf der Kulturen“ beschreibt: „westliche Welt“ gegen „islamische Welt“. Das Öffnen gegenüber dem vermeintlich Fremden durch Dialog und Verstehen durch tiefgreifende spirituelle Zugänge scheint mir dabei eine angemessene Strategie, um Grenzziehungen und eine „Wir und die Anderen“- Dichotomie aufzubrechen. Damit geht einher, bisher Gelerntes und als „Wahrheit“ konstruiertes in Frage zu stellen und zu ver-lernen. Dies kann bedeuten, zu verstehen, dass wir niemals nur von einer nationalen (deutschen) Kultur geprägt sind, sondern dass diese Kultur genauso wie unsere eigene Identität vielfältig, durchlässig und stetig in Entwicklung ist. Das Verstehen ermöglicht, Vielfältigkeit in uns und unserer Gesellschaft wahrzunehmen und wertzuschätzen.

Für mich gilt: Grundlegende kulturelle Einstellungen und Anschauungen beeinflussen die Art unseres Denkens, doch sie bestimmen es nicht vollständig. Die Identifikation mit einer Gruppe und die Zugehörigkeit zu dieser beeinflussen gegebenenfalls unser Handeln und Denken, doch sie verhindern nicht, dass wir auch andere Denkweisen und Einstellungen zulassen. Zudem hat jeder Mensch mehrere Zugehörigkeiten, wie Geschlecht, ethnische und soziale Herkunft, sexuelle Orientierung oder Familienstand. Es wäre wünschenswert, dass jedem Menschen die Wahlfreiheit bliebe, wo er oder sie sich zugehörig fühlt und nicht auf eine Kategorie reduziert zu werden. Genauso, wie die Identitätsbildung ein dynamischer und lebenslanger Prozess ist, befinden sich auch Kulturen und dessen Annahmen bei den Individuen und Gruppen in ständigen Aushandlungs- und Veränderungsprozessen. Kultur besitzt keinen statischen Kern, sondern ist eine dynamische Mischung.

Weena Mallmann

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